Im Strom der Welt.

Erzählung von Paul Bliß.
in: „Riesaer Tageblatt und Anzeiger„ vom 07. - 19.05.1927


Früher als sonst verließ Lucie den Leseklub ihrer Freundinnen. Von Anfang an herrschte eine diskrete Zurückhaltung, die man in diesem kleinen Kreise sonst nie zu finden gewohnt war. Eine dumpfe Schwüle lag über dem sonst so traulichen Raum. Und jeder fühlte, daß irgend etwas noch Unausgesprochenes, Grausiges die Gemüter bedrückte.

Am deutlichsten fühlte das Lucie.

Harmlos und fröhlich wie immer war sie hergekommen, in der Voraussicht, eine anregende Stunde hier zu verleben. Aber kaum war sie eingetreten und sah die bereits anwesenden Freundinnen an, da senkte sich, wie Schatten, etwas auf sie nieder, das ihr plötzlich den Atem nahm und ihr dann das Blut durch die Adern jagte.

Erstaunt sah sie sich um. Von einer zur anderen glitt ihr Blick. Aber jede der Freundinnen wich ihr aus. Jede war freundlich und lieb zu ihr, aber keine sprach ein offenes Wort, das die Stimmung klärte.

Mit peinlicher Deutlichkeit empfand Lucie das, und von dem Augenblick an war es um ihre Fassung geschehen, denn sie fühlte, daß ihr irgend etwas Unangenehmes bevorstand. Nur mit Mühe hielt sie sich aufrecht. Und bei der ersten Gelegenheit suchte sie einen Grund, sich zu verabschieden.

Angstoll, atemlos ging sie dann nach Hause, um sich Klarheit zu verschaffen.

Erschrocken sah die alte Mutter auf, als sie die Tochter zu so ungewohnt früher Stunde zurückkommen sah, und noch mehr erstaunte sie, als sie den Grund dafür erfuhr.

„Aber, Kind, ich bitte dich, was soll uns denn bevorstehen!? Du bist erregt und siehst Gespenster.”

Doch auch der Mutter Worte wirkten auf die Tochter nicht beruhigend, und plötzlich fragte sie: „Ist es dir nicht auch aufgefallen, daß Papa, als er sich gestern abend vor seiner Abreise verabschiedete, snders war als sonst?”

Wieder erschrak die alte Dame. „Anders als sonst? Wie meinst du das? Ich habe nichts davon gemerkt.”

Lucie nickte. „Als er mir die Hand gab, fühlte ich deutlich, daß sie zitterte.”

„Aber, Kind, wie soll ich das verstehen? So sag' doch klar, was du denkst. Mit deiner Erregtheit hast du mich schon angesteckt.”

Und plötzlich fragte die Tochter nun: „Hast du eine Ahnung, ob Papa in finanzieller Schwierigkeit ist?”

Mit starrfragenden Augen sah die Mutter auf. „Aber Lucie, wie soll ich denn das wissen? Darüber hat doch Papa mit mir nie gesprochen. Ueberhaupt, wie kommst du darauf?”

„Die Möglichkeit wäre doch wohl nicht so ganz ausgeschlossen.”

„Das weiß ich nicht. Aber ich glaube das auch nicht. Unser Bankhaus ist doch so solide und fest fundiert, daß es seit nahezu hundert Jahren allen Stürmen getrotzt hat.”

„Und trotz alledem erkläre ich dir, daß ich an Papa schon seit längerer Zeit kleine Veränderungen wahrgenommen habe; er hatte zweifelsohne Sorgen, die er uns verheimlichen wollte.”

Die alte Dame wurde immer erstaunter, aber auch immer besorgter.

„Warum hast du mir von alledem denn nie etwas gesagt?”

„Weil ich bisher noch immer selbst nicht so recht an die Richtigkeit meiner Beobachtungen glauben mochte.”

Angstvoll entgegnete die Mutter: „Das alles trifft mich völlig überraschend. Nie habe ich etwas Aehnliches gemerkt oder an derartiges auch nur gedacht.”

„Auch mir kamen alle diese kleinen, auffälligen Erscheinungen, die ich im Laufe der Zeit an Papa wahrgenommen habe, eigentlich erst heute so recht zum Bewußtsein; denn dort im Kränzchen war ein junges Mädchen — die Paula Hellwig —, du kennst sie ja auch als ein boshaftes Geschöpf —, die sprach so obenhin von den Gefahren, denen in unserer Zeit selbst die ältesten Bankhäuser ausgesetzt seien — und diese Worte waren direkt auf mich gemünzt, das fühlte ich ganz deutlich. Von dem Augenblick an fiel es wie Schuppen von meinen Augen, ich erkannte auf all den Gesichtern meiner Freundinnen, daß es etwas gab, was sie alle wußten, nur ich noch nicht! Und da packte mich die Unruhe und die heimliche Angst, und ich fing an zu beobachten und zu grübeln; nicht das geringste entging mir mehr, bis es mir endlich zum Erschrecken klar wurde, daß man mich heimlich bemitleidete. Nichts sagte man, kein Wort verriet etwas. Nur die Minen sprachen. Da fühlte ich klar, daß uns etwas Furchtbares bevorstände. Alle die anderen schienen bereits alles zu wissen, nur wir, die am meisten Beteiligten, wir ahnten noch nichts! Und da hielt es mich nicht länger mehr in der Gesellschaft. Ich ging, und niemand hielt mich zurück. Nur mitleidsvolle Blicke folgten mir. Schrecklich war das! Ganz grauenvoll schrecklich. Wie Feuer brannten mir diese Blicke ins Herz! Fast geflohen bin ich! Und selbst draußen auf der Straße verfolgte mich die Angst. Jedem Gruß wich ich aus, wie menschenscheu lief ich durch die Straßen, denn in all den Blicken der mir Begegnenden glaubte ich immer nur das Gleiche zu lesen. Sie alle, sie ahnten vielleicht schon, was uns bevorstand, und nur wir, wir wußten noch von nichts. So kam ich nach Hause!”

„Mein Gott! Mein Gott!” jammerte die alte Dame nun, „was wird das nur werden!”

Da trat die Tochter an sie heran und sie beschwichtigte und fragte sie dann: „Hat denn Papa nie etwas zu dir verlauten lassen, Mutting?”

„ber nein, kein Wort, nicht das geringste; er hat ja nie von seinen Geschäften und Unternehmungen gesprochen, und ich habe auch nie gewagt, ihn darum zu befragen.”

„So weißt du also auch nicht, weshalb Papa fortgefahren ist?”

„Er sagte, daß ihn dringende Geschäfte riefen, weiter weiß ich nichts.”

Lucie schwieg. Sie ahnte halb und halb schon, daß der Vater wohl niemals zurückkehren würde. Aber sie wagte es noch nicht, diesem Gedanke Worte zu leihen.

Doch die Mutter erriet es. Bebend fragte sie schnell: „Lucie, Kind, was denkst du?”

„Mach dir vorerst noch keinen Kummer, Mütterchen,” tröstete sie die alte Dame zärtlich — „was auch kommen möge, wir müssen es ja doch ertragen. Aber du bist ja nicht allein, wir beide, Kurt und ich, wir werden dich nie verlassen.”

Von neuem jammerte die Mutter: „Mein Gott, wenn es wahr ist, was du befürchtest, was soll dann aus Kurt werden! Ich darf ja an alles das gar nicht denken"/rdquo;

ernst, fast bitter schwieg die Tochter. Sie zürnte der Mutter. Sogar in dieser ernsten Stunde dachte sie nur an Kurt, an ihren Liebling, an seine Zukunft zuerst! So war es immer gewesen bisher, immer nur um den einzigen Sohn hat sich alles konzentriert: an sie, die Tochter, wurde erst in zweiter Linie gedacht. Das tat ihr auch jetzt wieder weh. Doch sie preßte die Lippen zusammen und schwieg.

„Ja, was soll denn jetzt nur werden? So rate mir doch, was wir tun sollen,” bat die alte Dame mit weinender Stimme.

Ruhig entgegnete Lucie: „Wir können nichts tun, als warten, Mama. Aber ich fürchte, wir werden gar nicht zu lange warten brauchen.Schon die nächsten Tage, vielleicht gar schon die nächsten Stunden werden uns sagen, was geschehen ist.”

„Schrecklich ist so ein Zustand der Ungewißheit! Und noch schrecklicher ist es, da mich das alles wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft!” —

Ratlos und hilflos saß sie da und sank in sich zusammen. — „Wenn man doch wenigstens von einem erfahrenen Manne hören könnte, um was es sich handelt. Dieser Zweifel raubt einem ja das letzte bißchen Kraft.”

„Vielleicht könnten wir mal den alten Schmidt fragen? Er würde dir doch sicher die reine Wahrheit sagen, wenn du ihn darum bätest.”

„Ja, du hast rehct. Bitte, laß ihn gleich herrufen zu mir!”

Sofort ging Lucie hinaus. Und schon nach wenigen Minuten kam sie mit dem Prokuristen der Firma, der im Hause alt und grau geworden war, wieder herein.

Ehrerbietig grüßend trat der alte Mann näher. Auch sein Gesicht war ernster und sorgenvoller als sonst.

Die Herrin bat ihn, Platz zu nehmen und begann mit unsicherer, ein wenig stockender Stimme: „Lieber Herr Schmidt, bitte, sagen Sie mir ganz ehrlich, was geht bei uns vor?”

Der Alte sah leicht erstaunt auf, lächelte verlegen und antwortete nicht gleich.

„Ich meine, ob es im Geshcäft irgend etwas gegeben hat, was zur Beunruhigung berechtigte?” fragte die alte Dame, nun lebhafter werdend.

Noch immer zögerte der Prokurist, er wußte nicht so recht, was er sagen sollte, oder wie er es sagen sollte. Doch da er die fragenden Blicke der beiden Damen auf sich gerichtet sah, begriff er, daß man hier schon irgend etwas ahnen mußte, und deshalb war eine Antwort nicht mehr zu umgehen.

„Wenn ich recht vermute,” sagte er dann, „haben die gnädige Frau von dem Gerücht gehört, das seit gestern über unsere Firma hier zirkuliert. Dies Gerede ist selbstverständlich — wie alle derartigen Klatschgeschichten — nur zum kleinsten Teil wahr. Tatsache ist, daß wir in letzter Zeit nicht gerade mit Glück gearbeitet haben. Zwei alte Häuser, die für sicher, ja für durchaus solide galten, haben falliert, und wir sind ziemlich stark dabei engagiert. Außerdem haben wir mit Pech spekuliert, und einige Werte, die unseren Fonds bildeten, sind recht erheblich gesunken. Gewiß, das alles ist eine Folge ziemlich unangenehmer Begleiterscheinungen, das gebe ich rückhaltlos zu, aber mit solchen Kalamitäten hat schließlich jedes Bankhaus mal zu kämpfen, und zu ernsten Besorgnissen liegt wirklich auch nicht die geringste Veranlassung vor. Zumal jetzt, wo der Chef in Berlin ein neues Engagement abzuschließen plant, ein Unternehmen, das für uns von ganz unabsehbarem Vorteil zu werden verspricht. Das, meine gnädige Frau, ist die volle Wahrheit über unsere Lage., und sobald der Chef zurück ist, werden die Lästerzungen da draußen verstummen.”

Die Herrin atmete erleichert auf. Sie reichte dem alten, treuergebenen Beamten die Hand und erwiderte: „Ich danke Ihnen, lieber Herr Schmidt, Ihre Worte haben mich einigermaßen beruhigt, und nun glaube ich auch selber, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen; denn in einem ernsten Falle hätte mein Mann mich doch sicher nicht ohne Nachricht gelassen. Also nochmals besten Dank.”

Mit ehrerbietigem Gruß empfahl sich der Alte.

Sinnend sah Lucie ihm nach. Sie kannte ihn und seine Eigenheiten genau. Und sie hatte bemerkt, daß er doch nicht so rückhaltlos alles gesagt hatte, was ihn bedrückte. Das beunruhigte sie sehr. Doch sie hütete sich, davon der alten Mutter etwas zu verraten.

„Bist du nun auch ruhiger, Kind?” fragte diese, als sie allein waren.

Mit leicht wehmütigem Lächeln antwortete die Tochter: „Ich muß wohl, Mütterchen.”

„Eigentlich könnte ich auf Papa böse sein, daß er mich so ganz ohne Mitteilung der Ereignisse ließ.”

„Das darfst du auch nicht, Mutting. Papa hat dir nur jede unnötige Angst ersparen wollen.”

&bdquoAber daß wir es erst von fremden Menschen erfahren mußten, das ärgert mich.”

„Aergere dich nicht, du hast ja gehört, daß noch kein Grund zu Besorgnissen vorliegt.”

Sie küßte der Mutter die Hand. Dann ging sie, ihr Zimmer aufzusuchen. Sie riegelte hinter sich ab, setzte sich in einen Lehnstuhl und fing an zu grübeln.

Nun sie allein war, brauchte sie ihrer Unruhe keine Zügel mehr anzulegen. Für sie war es klar, daß man mit einer Katastrophe zu rechnen hatte. Nur über deren Größe wußte sie noch nichts, aber sie rechnete schon jetzt mit dem schlimmsten.

Also der Ruin! Mit einem Schlage an den Bettelstab gebracht! Das war das Resultat ihres Nachdenkens.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie preßte die Lippen zusammen, und mit übermächtiger Stärke drängte sie die Tränen zurück.

Nein, nicht weich werden! Eine im Hause mußte den Kopf oben behalten, wenn der Sturm losbrach, und sie ahnte schon jetzt, daß sie diese Eine war, die dann für alle die anderen, die Kopflosen, denken mußte.

Was aber sollte dann werden? Ja, wer das jetzt schon wüßte. Natürlich mußte Kurt sofort den bunten Rock ausziehen, denn an eine militärische Karriere war jetzt ja nicht mehr zu denken. Aber was wurde nun aus ihr? Würde der junge Graf Schmittwitz auch jetzt noch sie zur Frau begehren? Zwar war noch kein bindendes Wort gesprochen, jeden Augenblick konnte er noch zurücktreten, aber ganz im stillen hoffte sie, daß er sie jetzt nicht im Stich lassen würde. Sie hatte ihn gern, sehr gern. Jetzt erst gestand sie es sich ein.

Als sie nach einem halben Stündchen wieder zur Mutter hineinging, kam gerade Besuch. Tantchen Lotte war es. Und sie war ganz außer Atem.

„Nein, Kinder, sagt bloß, ist es denn wirklich wahr, was man jetzt in der ganzen Stadt spricht?” So trat sie aufgeregt und lamentierend näher. „Ganz offenkundig erzählt es bereits der eine dem anderen, daß ihr bankrott seid!”

Frau Luise Baun funr zusammen. Doch sie raffte sich auf, erhob sich mit ruhiger Würde und entgegnete mit sicherer Stimme: „Du solltest wirklich ein bißchen vorsichtiger mit deinen Worten sein, Tantchen.”

„Aber die ganze Stadt sagt es schon!”

„Um so mehr Grund für denkende Leute, nicht so etwas nachzuschwätzen!”

Das Tantchen war beleidigt.

„Mich als Klatschbase hinzustellen, hast du wirklich keinen Grund, liebe Luise. Wenn eine zu euch gehalten hat und euch bis jetzt noch immer verteidigt hat, dann war ich es. Wenn aber alle Welt so etwas über euer Geschäft sagt, ja, dann muß doch etwas Wahres daran sein! Und mir kannst du die Unruhe doch wohl auch nicht verdenken. Oder solltest du es nicht wissen, daß ich mein kleines Kapital bei euch deponiert habe?”

Lucie erschrak und wurde blaß.

Die Mutter aber erwiderte mit ruhiger Höflichkeit: „Nein, ich wußte es in der Tat nicht. Aber wenn du deswegen so beunruhigt bist, brauchst du das Depot doch nur abzuheben.”

„Das meinst du! Leider war mein Versuch soeben ergebnislos.”

„Was heißt denn das?”

„Ich habe meine Papiere aber nicht bekommen können, und so wie mir erging es noch vielen anderen Leuten,” klang es ziemlich spitz zurück.

Die alte Dame wurde bleich und sank in einen Stuhl. — Sofort war Lucie bei ihr.

„Bitte, rufe Herrn Schmidt noch einmal her.”

„Aber, Mütterchen!”

„Tu, was ich dir sage!”

Stumm ging die Tochter hinaus. Und von den beiden anderen wurde kein Wort gesprochen. Langsam, peinlich und drückend verrannen die paar Minuten.

Endlich trat Lucie mit dem Alten wieder ein.

Sofort stand Frau Luise auf.

„Lieber Herr Schmidt, weshalb bekommt diese dame ihr Depot nicht zurück.?”

Der Prokürist wurde verlegen.

„Gnädige Frau, der Chef hat den Schlüssel zum geheimen Tresor mitgenommen.”

Tantchen nickte mit spitzfindigem Lächeln.

Die Herrin des Hauses aber starrte den alten Schmidt entsetzt an und wußte nichts zu sagen.

Eine kleine peinliche Pause entstand.

Endlich sprang Lucie ein. Schnell rief sie: „Aber was sorgt ihr euch denn nur so viel! Papa kommt doch heute abend zurück, also kann doch schon morgen alles erledigt werden!”

Tantchen lächelte noch immer höchst pikiert.

„Hoffentlich kommt er auch wirklich zurück; denn sonst könnte die Sache sehr brenzlich werden,” meinte sie sehr selbstbewußt und rauschte stolz hinaus.

Wütend wollte Lucie ihr nachlaufen, doch die Mutter hielt sie zurück. Dann wandte sie sich noch einmal an Schmidt: „Was heißt das, ich bitte Sie, was heißt das alles? Kein Wort von alledem begreife ich!”

In peinlicher Verlegenheit strich der Alte über seinen weißen Vollbart; endlich erwiderte er tröstend: „Gnädige Frau, Ihr Fräulein Tochter hat ganz recht. Es ist am besten, wir warten erst die Rückkehr des Chefs ab.”

Mit ehrerbietig stummem Gruß empfahl er sich. — Entsetzt blickte die Mutter zur Tochter,

Bdquo;Mein Gott, mein Gott, was heißt das alles denn nur? Ich gebe mir die größte Mühe, aber ich bringe kein Licht in dieses Dunkel! Was soll man denn nur davon denken? Weißt du das, mein Kind?”

Liebevoll tröstend trat Lucie heran.

„Ich weiß ja auch nicht mehr als ihr alle, Mütterchen, aber dennoch meine ich, vorläufig ist noch kein Grund da, sich unnütze Sorgen zu machen.”

Sinnend starrte die alte Dame vor sich hin. Sie wehrte sich gegen die grausigen Gedanken, die sich mehr und mehr in ihr festsetzten, sie konnte und wollte noch nicht das Schreckliche glauben, das jetzt, wie unheildrohend, vor ihr aufstieg, — nein, nein das alles war ja doch ganz unmöglich, ganz undenkbar war es ja doch!

In grauer Oede, peinvoll langsam strich die Zeit dahin. Zu Ewigkeiten wurden die Minuten.

Lucie hatte Auftrag gegeben, daß niemand aus der Stadt, wer auch kommen mochte, mehr vorgelassen würde.

Gegen acht Uhr kam ein Telegramm an die Mutter.

Bebend vor Angst und Erregung riß die alte Dame es auf.

Aber es war nur noch eine Sorge mehr.

Kurt meldete seine Ankunft mit dem Nachtzug.

Wieder sahen sich Mutter und Tochter fragend an, doch wieder wußte keine von den beiden eine Antwort darauf zu geben. Unter quälenden Gedanken verbrachten sie die Stunden, bis der Abend und die Nacht hereinbrachen.

Endlich gegen elf Uhr kam Kurt an. Er trug Zivil, und schon dieser Umstand rief aufs neue Bestürzung hervor.

Bebend vor Angst und vor innig-zärtlicher Besorgnis schloß die alte Dame ihren Einzigen in die Arme und küßte ihn herzlich, bis Kurt, ernst und verstört, sich endlich frei machte. Erst jetzt fiel der Mutter sein so verändertes Aussehen auf.

„Um Himmels willen,” rief sie angstvoll, „was ist geschehen?”

Auch Lucie, die bisher sich abseits gehalten, trat nun gespannt näher.

Kurt zupfte nervös an seinem Salonbärtchen, dann preßte er die Lippen zusammen und starrte stumm auf seine weißen, gutgepflegten Hände.

Endlich begann er zögernd: „ich fürchtre, liebe Mama, meine Nachrichten sind nicht die besten.”

„So sprich nur, mein Junge,”bat die alte Dame verängstigt, halb atemlos schon.

Und mit zitternder Stimme fuhr er fort: „Der Papa war bei mir, dreimal, aber immer vergebens. Ich war zu einer Inspizierung abkommandiert. Erst als ich unm sieben Uhr zurückkam, erfuhr ich alles. Natürlich eilte ich sofort ins Hotel, aber ich kam zu spät, Papa war schon wieder fort.”

Er hielt ein. Aber die angstvoll fragenden Blicke von Mutter und Schwester ließen ihm keine Ruhe. Gleich sprach er weiter.

„Als ich wieder zurückkam in meine Wohnung, übergab mir mein Bursche einen großen brief. Er war von papa. Zitternd riß ich ihn auf. Ein anderer versiegelter Brief fiel heraus. Er ist an dich adressiert, Mama; da ist er.”

Freu Luise saß da wie zu Stein erstarrt. Sie hielt das rotgesiegelte weiße Kuvert in der Hand. Mit angstvollen Augen blickte sie es an. Es zu öffnen, wagte sie nicht.

Kurt hielt noch ein Blatt in der Hand.

Lucie sah es und bebend fragte sie: „Und jener andere Brief dort? Ist er an dich gerichtet?”

Der Bruder bejahte stumm.

Da sah auch die Mutter auf.

„Und was steht darin?”

— — —

wird fortgesetzt.